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Es gibt ihn. Er ist immer irgendwo in der Nähe. Niemand hat ihn bestellt, niemand hat ihn gewollt. Er ist einfach passiert. Die paar Fetzen an seinem Leib sind immer dreckig, so wie ..............


Noelito

Es gibt ihn. Er ist immer irgendwo in der Nähe. Niemand hat ihn bestellt, niemand hat ihn gewollt. Er ist einfach passiert. Die paar Fetzen an seinem Leib sind immer dreckig, so wie er. Noelito ist das ungeliebte Kind der Familie.
Er ist an allem Schuld, man schlägt auf ihn ein: mit Lederriemen, Ästen, Knüppeln. Alle sagen er ist böse. Seine Mutter lebt als Hure angeblich irgendwo in Santiago, sein Vater im Dunstkreis der Familie hier. Der hat sogar Arbeit, fährt mit seiner Pasola herum. Sein Geld aber versäuft und verhurt er. Er spricht nicht einmal mit seinem Sohn. Er ist ihm vollkommen egal. Noelito hat weder Schuhe noch Strümpfe. Was er am Leibe hat wurde von anderen weggeworfen. Seine Spielzeuge sind Steine, eine selbstgebastelte Schnarre aus den runden Früchten der großen Feigenbäume, durch die ein kurzer Ast als Achse gesteckt und daran eine etwas längere Astgabel angebunden ist sowie eine Plastikflasche mit einer Nylonschnur und einem Stacheldrahthaken dran. Damit geht er hin und wieder angeln.
Als er zwei Jahre alt war, verletzte er sich. Er brach sich das rechte Schienenbein. Wie das passierte, weiß heute niemand mehr. Es ist ein Trümmerbruch. Man kann bis auf den blanken Knochen schauen. Es ist ständig entzündet und vereitert. Als ich Mercedes darauf ansprach, hob sie die Schultern hoch und meinte nur: "Voodoo." Bis heute ist nichts passiert. Heute ist er zehn! Voriges Jahr habe ich ihm ein Hemd, eine Hose, Strümpfe und ein paar Schuhe gekauft, um ihn in die Schule zu schicken. Die Professorin fragte nach der Geburtsurkunde. Die gab es nicht! Also wurde ich bei der Oficialia de Estados Civil - einer Art Amt für Personenstandsangelegenheiten - vorstellig, um ihn auf meinen Namen registrieren zu lassen. Man kennt mich dort, wir haben das schon öfter gemacht. Spätere Ahnenforscher oder sonstige Archivhaie werden sich wohl irgendwann einmal über den hochpotenten alten Gringo wundern, doch damit habe ich kein Problem. Die Beamtin meinte, ich solle doch einfach mit dem leiblichen Vater wiederkommen, denn dann sei es wenigstens korrekt. Ich hielt Noel an der Straße an und sagte: "Morgen um neun kommst Du zu mir! Dann werden wir Deinen Sohn registrieren lassen." Am nächsten Tag kam er tatsächlich. "Hast Du Deine Cedula (Personalausweis) dabei?" Er schaute mich an, hob müde die rechte Hand hoch und sagte: "Perdido!" (Verloren) Wahrscheinlich hat er sie vor den Wahlen um hundert Pesos an interessierte Wahlhelfer verscherbelt, um sich billigen Rum zu kaufen. "Quedate!" (Verschwinde!)
Die nächste Person, die ins Spiel kam, war die Großmutter. Sie ist sehr sympathisch und wir verstehen uns ausgezeichnet. Sie mochte mir helfen. "Bring mir bitte seine Mutter aus Santiago her. Ich zahle Hin- und Rückreise, sowie ein gutes Essen!" Zu Weihnachten erschien sie dann: Ein Riesenweib! Sie füllte das Loch vollständig aus, wo ich später mal eine Türe hinbauen möchte. "Hast Du eine Cedula,
um Deinen Sohn anzumelden? Der muß nämlich in die Schule!" - "Den habe ich in Santiago registrieren lassen. Ich hab mir nämlich gedacht, es ist besser, wenn er bei seiner Mutter lebt - offiziell wenigstens!" Monate später kam dann die ersehnte Kopie herüber und nochmals viele Monate später ging er dann zur Schule. Er ist der Klassenälteste.
Noelito ist nicht böse. Wenn er etwas hat, teilt er es mit anderen Kindern. Doch er hat gelernt, sich zu wehren. Der natürliche Respekt vor Erwachsenen ist ihm abhanden gekommen. In der Schule gab es eine Rauferei. Steine flogen. Einer traf ihn knapp unterhalb des Knies an seinem gesunden Bein. Eine mir unbekannte Frau fuhr mit ihrer Pasola auf meine Terrasse und teilte mir mit, daß die Professorin ihn in das Hospital hat bringen lassen. Ich öffne meinen großen Koffer, nehme Pflaster, ein Paket Gazetupfer und eine Tube Betaisodona-Salbe heraus, setze mich in den Jeep und fahre ins Hospital.
Dort hatten sie ihn schon vernäht: sechs Stiche! Der Doktor schaut auf meine Medikamente. Die Gazetupfer gefallen ihm. "Hast Du viel davon, Pedro?" - "Ich denke, ich habe noch ein Paket. Habt Ihr an Tetanus gedacht?" Hatten sie nicht. Also ging ich um die Ecke in die Farmacia von Rodriguez, meinem alten Schamanen und kaufte um 150 Pesos Gammaglubolin. Drei Erwachsene mussten ihn
halten. Er schrie wie ein Tier, in dem Moment war er es auch! Bevor wir gingen, legte ich noch meine Tupfer auf den Tisch. "Muchas Gracias, Senor Pedro!"
Zwei volle Tage lang geschah nichts besonderes. Die Wunde musste zwar gereinigt werden, weil er sich wie immer ständig im Dreck bewegte, doch es sah zunächst ganz gut aus. Am dritten Tag kommt Mercedes zu mir und sagt: "Du kannst ihm nicht helfen, Pedro. Schau Dir das doch mal an!" Die Wunde war aufgeplatzt, die Nähte in der Mitte auseinander gerissen. Alles war voll Dreck und Eiter. Winzige Fliegen hatten sich bereits angesiedelt. Eine rote Schwellung deutete auf die bereits akute Entzündung hin. Ich raste aus! Zu viert fangen wir den Buben ein. Mit der rechten Hand drücke ich seinen Körper auf den Beifahrersitz und mit der linken am Lenkrad machen wir uns wieder auf den Weg zum Hospital.

Dort machten sie ernste Gesichter. "Ich weiß!" sagte ich: "Was soll ich denn machen? Wir müssen das jetzt reinigen." Sie holten Alkohol. Ich preßte seine Arme an seinen Körper, daß es schmerzte. Sein Geschrei war in der ganzen Klinik zu hören. "Da mußt Du jetzt durch, Noelito!" Der Arzt holt einen
Rezeptblock hervor und murmelt was von Antibiotika. Ich runzele die Stirn und rede mit ihm. "Wenn sie immer Antibiotika anwenden, wird es irgendwann keine Wirkung mehr haben. Was halten sie denn von Penicillin, so 400 Tausend Einheiten etwa, sieben Tage lang?" - "Hast Du Medizin studiert, Pedro?" - "Nein, ich bin nur früher viel gereist." Er schloß sich meinem Therapievorschlag an. Dann sprachen wir über seine alte Verletzung. Das könnten sie hier nicht machen. Entweder in San Francisco de Macoris oder in Santo Domingo, wo sie für orthopädische Operationen ausgerüstet sind. Der Staat würde die Kosten übernehmen, doch wenn sie mich sehen, muß der Gringo natürlich zahlen! Und: die
Sache eilt!
Am nächsten Morgen bekam Noelito die erste Penizillininjektion. Drei Männer drückten seinen Körper auf meinen Esstisch. Ich ziehe sterilisiertes Wasser aus der kleinen Plastikampulle, spritze es in das Gläschen mit dem weißen Pulver, schüttele das ganze ein wenig. Dann ziehe ich die Spritze auf, laß oben die Luft raus und ab mit Schwung in seinen kleinen Hintern! Er schrie und bäumte sich auf. Seine Pobacken waren so verkrampft, daß ich schon dachte, ich wäre aus Versehen in der Tischplatte gelandet! Und dann müssen Sie nur noch drücken. Ich habe mindestens so gelitten wie er!
Mittlerweile ist alles durchgestanden. Er hat seine sieben Spritzen bekommen. Zum Schluß verkrampfte er sich dann nicht mehr. Die Wunde ist verheilt. Eine Narbe wird wohl bleiben. Doch wie schaut es mit seinen inneren Wunden aus, die ihm zugefügt wurden und die niemand sieht? Wir werden viel Zeit brauchen. Nächste Woche werde ich mit ihm nach Santo Domingo reisen. Werde ich den Ärzten erklären können, daß ich dem Kleinen nur helfen möchte, ohne deswegen gleich mein Haus verkaufen zu müssen? Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, doch eines weiß ich: Wir werden es
versuchen!
Als ich Noelito zum ersten Mal aus dem Spital abholte, fragte ihn der Arzt, wie er denn hieße. Der Knabe blickte verstockt auf den Boden und meinte ganz leise: "Noelito." - "Hast Du auch einen Nachnamen?" Er nannte einen - meinen! "Ese desgraciado no es de mi!" fuhr ich hoch und lachte den Arzt an. Der lachte zurück und wir wussten, dass in diesem Moment meine Familie wieder um ein Mitglied reicher geworden war!
Der Becher ist wieder einmal geleert. Die Wut, die Verzweiflung und die Ohnmacht der Hilflosigkeit sind weggespült. Ein wenig Resignation ist geblieben. Ich schaue aufs Meer. Ganz weit dahinten, wo es mit dem Himmel zusammenzutreffen scheint. Wie viele Noelitos mag es wohl geben auf dieser Welt?

Pedro

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